NEIN!

Von zwei Abschieden

Ich sehe sie noch vor mir, die Seiten in der Frankfurter Rundschau im Jahr 1999 mit dem vollständigen Text des sog. Schröder-Blair-Papiers . Ich las, ich las mehrmals, ich weigerte mich, diesen „Vorschlag“ der Herren Schröder und Blair, in Wirklichkeit der Herren Hombach und Mandelson, anzunehmen. Zunächst, noch im selben Monat, im Juni 1999 referierte  ich für die GenossInnen der AfA  (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen) zum Inhalt dieses Papiers. Auf ihre Bitte hin tingelte ich in den darauf folgenden Monaten durch die Ortsvereine meines Unterbezirks, machte meine Genossinnen und Genossen mit dem Papier bekannt und diskutierte mit ihnen, manchmal bis spät in die Nacht.

Die praktische Umsetzung dieses Vorschlags ließ nicht lange auf sich warten. Frau Kramme, MdB Bayreuth, während der Legislaturperiode 2013-2017 Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, versuchte uns die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, in die Geschichte eingegangen unter dem Kürzel „Hartz IV“,  schmackhaft zu machen. Ich sagte laut und deutlich „Nein“ und verließ die SPD, als ich sah, dass ich in und mit der neuen deutschen Sozialdemokratie nichts mehr würde ausrichten konnen.

Die Globalisierung, die wir schon seit den frühen Siebzigern in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit diskutiert hatten, ihre möglichen Auswirkungen in Wirtschaft und Arbeitswelt: Ohne jede Gegenwehr der Sozialdemokratie in den entwickelten Industrieländern erfasste sie mit voller Wucht immer schneller die arbeitenden Menschen rund um den Globus. Mit Unterstützung der deutschen und europäischen Sozialdemokratie hat  die neoliberale Globalisierung  die Welt unter ihre Herrschaft gebracht. Im Interesse der „globalen Konkurrenzfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften“ – so die Begrifflichkeit der Herrschenden – wurden hier Industriezweige vernichtet und andernorts mit Hilfe staatlicher Subventionen, des IWF und der Weltbank im Interesse der Aktionäre  aufgebaut. Die Fäden für meine Hemden und Hosen werden nicht mehr in Kulmbach, Bayreuth und Hof gesponnen, erst Recht nicht mehr im „befreiten“ Manchester Mecklenburgs, dem Landstädtchen Malchow.  U. a. die Handelskette KiK verhökert zu Niedrigstpreisen die in Asien gefertigten Kleidungsstücke. Gefertigt unter Arbeits- und Lebensbedingungen, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünsche. Auch die „Marken“ lassen dort fertigen, unter den gleichen Arbeitsbedingungen mit höheren Gewinnspannen.

In den  Industrieländern Europas wurde mit Unterstützung der „modernen“ Sozialdemokratie das gewerkschaftlich organsierte Industrieproletariat umgewandelt in ein Mosaik werktätiger Kasten, die Werkverträgler, Leiharbeiter, Stammbelegschaft heißen. Wer in diesem System ein Arbeits-Los ziehen will, muss an 7 Tagen  24 Stunden lang verfügbar sein, sich auf eigene Kosten um die Qualifizierung seiner Arbeitskraft kümmern und ebenfalls auf eigene Kosten heute hier und morgen dort arbeiten. Mit Wegen zur Arbeit von täglich bis zu 4 Stunden für Hin- und Rückfahrt, für manche auch 1000 km am Wochenende um mal nach den Kindern zu sehen oder nach dem Gefährten. Die von Schröder und Blair anvisierte globale Konkurrenzfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften wurde durch  eine erzwungene Flexibilität und Mobilität der Arbeitskräfte erreicht, die Familien belastet, wenn nicht sogar zerreißt und die Kindern Stundenpläne aufzwingt, die kaum noch ein Stündchen „Trödeln“ enthalten. Man muss sie beizeiten gewöhnen, die Kleinen, an eine effiziente Lebensführung. Nur wer beizeiten übt, mit  Schule und Turbo-Abitur hier, dort Sport, da drüben Nachhilfe und zur Entspannung Bezahlvergnügen, bereitgestellt von der Kultur- und Freizeitindustrie, nur der wird als Erwachsener die neue Freheit richtig genießen können. Früh wird gekrümmt, was ein Haken werden soll.

Ein solches Leben wollte und will ich nicht. Nicht für mich, nicht für meine Tochter, auch nicht für meine Enkelin. Auch meine Tochter nicht für sich und nicht für ihre Tochter.  Ich kenne niemanden, dem diese Art der Lebensführung gefällt. Sie ist so üblich, sie wurde und wird erzwungen. Sie ist gerichtet gegen die inviduelle Selbstbestimmung. Die herrschende Propaganda, die Propaganda der Herrschenden, suggeriert, sie beinhalte ein nie gekanntes Ausmaß an individueller Freiheit. Gemeint ist dabei jedoch ausschließlich die Konsumfreiheit – so man der oberen Kaste angehört. Für die Familien und Kinder der beiden unteren Kasten der Werktätigen und für die hier noch nicht erwähnte unterste Kaste, die der „Überflüssigen“, gibt es nicht einmal die.

Bekannte Mitglieder – keineswegs das Fußvolk, das in Wahlkämpfen zum Verteilen des Werbematerials gebraucht wird und zum Plakatieren – der linken Partei zu deren Entstehen ich zwischen 2002 und 2017 mein Scherflein beigetragen habe, sind dem Charme  der Konsumfreiheit in der erzwungenen Globalität erlegen. Sie interpretieren den globalen Zwang der Arbeit nachzuziehen, über alle Grenzen hinweg, die Stadtgrenze, die Landkreisgrenze, die Bezirksgrenze, die Landesgrenze, die Staatsgrenze, ja sogar über das Ende des Kontinents hinaus,  als neue, große, globale Freiheit. Sie gehen, wahrscheinlich weil sie über ein hohes kulturelles Kapital verfügen und nicht selten über ein ansehnliches materielles, leichtfüßig über die Nöte derer hinweg, die diese Freiheit einfach nicht haben, mit großer Wahrscheinlichkeit auch zukünftig nicht haben werden. Die nagenden, klitzekleinen Ungeheuer des schlechten Gewissens werden auf der Grundlage eines ordentlichen Einkommens besänftigt durch die regelmäßige Beschaffung von cradle2cradle Produkten in TOP-Design, unverpackten Lebensmitteln im Bio-Supermarkt, fair gehandelten Tees, handwerklich hergestellten Brotes und  jährlich vier Arbeitseinsätze beim Biobauern. Genau diese Leute schütten ihr giftiges Moralin aus über diejenigen, die diese „Freiheit“ nicht wollen,  diejenigen,  die hinter dieser Freiheit den Zwang spüren, der ihnen an jedem Freitag und jedem Sonntag 10 -12 Stunden und mehr  ihres Familienwochenendes raubt , einmal in der einen Richtung, einmal in der anderen im Stau auf dem Weg zur Arbeit,  nicht weit von meinem Wohnort auf der A 9. Und sie schütten das Gift der Diffamierung aus, über diejenigen, die an deren Seite stehen, weil sie den Zwang erkennen und keinen Freiheitszuwachs.

Wer sich auf den gefährlichen Weg macht, durch die Wüste und übers Meer, auf die Länder der Arbeit zu, der genießt kein globales Menschenrecht auf Freizügigkeit. Der wird getrieben von der Peitsche des Hungers oder der Bestie Krieg. Die Peitsche wird geschwungen von den Profiteuren der Globalisierung, die Bestie von ihnen gefüttert. Wer versucht,  dem sich daraus ergebenden Elend auf der Grundlage falscher Einschätzungen zu begegnen, wird es nicht verringern, sondern zu seiner Ausdehnung beitragen. Wohltätigkeit verbessert die Lebenssituation der Einzelnen, sie beseitigt nicht die Ursachen ihrer schlechten Lage.

Deshalb sage ich erneut „NEIN!“ Wissend, dass es weder denen auf dem Meer hilft noch denen im Stau nützt. Ich sehe, ich werde unter und mit der LINKEN nichts mehr ausrichten können.