Von Menschen und Teufeln

Vorweg: Ich halte manche Mitmenschen für ausgemachte A…, obwohl sie gleichzeitig liebevolle Väter, aus Tierliebe Vegetarier und äußerst umsichtige und defensive Autofahrer sind. Was richtig ist, muss richtig bleiben. Ich muss sie aber weder lieben noch hassen, um zu dem Schluss zu kommen: „In meiner Küche will ich den/die nicht sitzen haben.“ Dazu könnte reichen, dass eine/r nicht mit Messer und Gabel essen kann oder mir zu dumm ist.  Es ist mein gutes Recht, manche Leute nicht zu mögen. Öffentlich machen muss ich das nicht, schon gar nicht mit der Begründung ich hielte sie für ausgemachte A. …. . Wäre u. U. auch strafbar. Denken darf ich aber über XX.YY, was ich will und ich muss ihn/sie auch nicht in meine Küche lassen.

Unser Lokalblatt, der Nordbayerische Kurier, griff kurz vor Weihnachten die Tatsache auf, dass ein Unternehmer und Professor namens Winfried Stöcker, gebürtig in Pegnitz, gegenüber der Sächsischen Zeitung rassistische Äußerungen von sich gegeben hat. Wer sich rassistisch äußerst, ist ein Rassist. Zu seiner Ehrenrettung trat auf Befragen der Zeitung der Pegnitzer Altbürgermeister an, der von Winfried Stöcker sagte, er sei ein aufgeschlossener, ein sehr sozial denkender Mensch. – Möglicherweise ist  Winfried Stöcker beides.

Werner Rügemer, ausgewiesener  und  qualifizierter Kapitalismuskritiker wurde von der Autorin Adriana Stern des Antisemitismus bezichtigt  und mit Bezug auf diese Einschätzung als Referent einer gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltung ausgeladen.

Sebastian Edathy, der als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses auf Bundesebene gute Arbeit geleistet hat, wird der Erwerb von Fotos unbekleideter Jungs zum Vorwurf gemacht.

In allen Fällen wäre zunächst einmal zu prüfen, ob die öffentlich vorgetragenen Behauptungen hinreichend begründet sind.

  1. Im Fall Stöcker gibt es Belege dafür,  ihn als Rassisten zu bezeichnen.
  2. Im Fall Rügemer würde ich das Etikett `Antisemit´ nicht für richtig halten. Die von A. Stern u.a. vorgetragenen Gründe halte ich nicht für stichhaltig.
  3. Warum Edathy Bilder unbekleideter Jungs gekauft hat, wissen wir nicht. Mit Verweis auf seine Privatsphäre äußert er sich zum Stichwort `pädophile Neigungen´ verständlicherweise nicht.

In allen drei Fällen wäre dann zu prüfen, ob und in welchem Umfang strafbare Handlungen vorliegen. Dies tun in einem Rechtsstaat Ermittlungsbehörden und Gerichte.

  1. Rassismus ist dann strafbar, wenn er in Volksverhetzung mündet, der Rassist z. B.  Gewalttaten gegen Farbige verübt oder Organisationen unterstützt, die dem Art. 239 des GG widersprechen, weil sie  zu rassisch, religiös, ethnisch motivierter Diskriminierung und evt. sogar zu Gewalt aufrufen. Dies könnte bei Herrn Stöcker der Fall sein.  Ermittlungsbehörden sind jedoch der Presse zufolge nicht tätig.
  2. Gegen Unterstellungen, Verunglimpfungen, Beleidigungen kann der Betroffene auf dem Rechtsweg vorgehen, wenn er es für notwendig hält. Antisemitismus ist dann strafbar, wenn er wie andere Rassismen Handlungen zur Folge hat wie in 1 beschrieben. Die von Adriana Stern, Henryk Broder u. a. vollzogene Gleichsetzung von Antisemitismus, Antizionismus und Krtitik an der Politik des Staates Israel ist Gegenstand politischer Auseinandersetzung und strafrechtlich irrelevant.
  3. Pädophile Neigungen als solche sind nicht strafbar. Strafbar sind Übergriffe gegen Kinder und Besitz/Erwerb kinderpornographischer Bilder. Zum Tatzeitpunkt waren Besitz und Erwerb von Abbildungen nackter Kinder ohne eindeutig sexuellen Bezug in Deutschland nicht strafbar.

In allen drei Fällen haben die erhobenen aber bisher nicht gerichtlich überprüften Vorwürfe massive Auswirkungen auf die Existenz der so bezeichneten Menschen. Saubermänner und- frauen, die gegenüber Menschen zu Vorverurteilungen neigen, mag ich nicht. Es ist mein gutes Recht, sie nicht zu mögen. Ich rufe nicht dazu auf, Sauberfrauen und -männer zu verbrennen oder des Landes zu verweisen. Es steht mir jedoch frei, mich mit ihnen nicht an einen Tisch zu setzen, meine Brötchen nicht bei ihnen einzukaufen oder hier zu schreiben, dass ich Sauber-Menschen nicht mag. Gleiches steht mir und allen anderen Menschen zu im Umgang mit den hier genannten Herren Stöcker, Rügemer und Edathy und mit mir.

Zu allen drei Fällen, nicht nur in der Frage des Antisemitismus,  gibt es natürlich auch eine politische Ebene. Es stünde mir als Bürgerin dieses Landes zu, dafür zu werben, Rassisten grundsätzlich den Mund zu verbieten [Einsatz für Einschränkung der Meinungsfreiheit auf Grund eines Gesetzes]. Es steht mir zu, nach dem Interesse zu fragen, das  eine mehr als dümmliche Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus leitet [Beteiligung an der politischen Debatte] Es steht jemandem zu, zu fordern, dass sexuelle Handlungen an Kindern und Abbildungen, die solche voraussetzen oder provozieren in größerem Umfang als bisher strafbewehrt werden. [ Einsatz für die Verschärfung sexualstrafrechtlicher Bestimmungen]. Jede Einschränkung der Freiheitsräume für solche gesellschaftlichen Debatten halte ich für tendenziell undemokratisch. Aber: Niemand hat das Recht, einzelnen Menschen, die in einem von vielen Punkten eine andere Meinung vertreten oder anders handeln, als ich es für richtig hielte,  Steine ins Fenster zu werfen, sie in der Psychiatrie unterzubringen zu lassen oder ihnen den Erwerb des Lebensunterhaltes unmöglich zu machen.

Ich halte  nach seinen Aussagen W. Stöcker für einen Rassisten, W. Rügemer nach allem was ich zur Kenntnis genommen habe, nicht für einen Antisemiten und S.  Edathy nicht für einen Kinderschänder. Angenommen einer von ihnen säße zufällig an meinem Wirtshaustisch und wir kämen z. B. über das Thema  `Eine Schule für alle´  ins Gespräch. Dass ich einen der drei persönlich erkennen würde, glaube ich nicht. Ich habe sie alle bisher nur auf Bildern gesehen.

Sollte im Verlauf des Gesprächs W. Stöcker  äußern, dass Neger wegen der minderen Intelligenz ihrer Rasse ohnehin keine Bildung bräuchten,  W. Rügemer äußern, dass das Projekt ohnehin scheitern würde, weil zu viele reiche Juden Einfluss auf die Gesetzgebung hätten oder S. Edathy seiner Freude Ausdruck verleihen, dass es zum Glück der Straßenkinder pädophile Gutmenschen gibt, die ihnen Obdach gewähren und sie unterrichten, würde ich dagegen mit den Mitteln vorgehen, die mir gegeben sind und die ich in der konkreten Situation für angemessen und richtig halte: mit Argumenten, evt. mit persönlicher Missachtung, ausgedrückt durch begründetes Wegsetzen an einen anderen Tisch,  vielleicht auch mit einer spontanen Ohrfeige. Die strafrechtlichen Folgen müsste ich dabei in Kauf nehmen und mit dem Vorwurf mangelnder Toleranz kann ich leben.

Allen, die sich öffentlich äußern ist  zu raten, die persönliche, die politische und die juristische Ebene einigermaßen sauber zu trennen. Auch wenn´s manchmal schwerfällt. Dass Herrn Stöckers Unternehmen evt.  für den  Kindergarten spendet, ändert nichts daran, dass er selbst ein Rassist ist. Dass Frau Stern Herrn Rügemer für einen Antisemiten hält, berechtigt eine mit meinen Mitgliedsbeiträgen finanzierte Institution nicht dazu, ihm den Mund zu verbieten. Dass Herr Edathy lt. möglicherweise illegal, geheimdienstlich erlangter `Erkenntnisse´ Bilder unbekleideter Jungs sammelt, entwertet nicht seine Arbeit im NSU-Ausschuss. Nicht immer hat das eine mit dem anderen zu tun.

Zum Schluss aber sei gefragt, warum die Verurteilung eines rechten V-Mannes namens Tino Brandt  u. a. wegen sexueller Übergiffe gegenüber Schutzbefohlenen oder Abhängigen in den Medien und unter den Saubermenschen nicht annähernd die Empörung auslöst wie Edathys Fotokäufe. Was beim einen unverzeihlich ist, wird beim anderen problemlos relativiert oder unter den Tisch gekehrt. Es sagt etwas über die Kräfteverhältnisse in unserer Gesellschaft. Und vielleicht hat´s auch Methode.

Ketzerisches

Albrecht Müller hat am (17.12.2015) auf den Nachdenkseiten einen Text unter dem Titel PEGIDA – Ohne Korrektur der Politik wird dieser oder ein ähnlicher Protest vermutlich zum Dauerproblem veröffentlicht.

Freundlicherweise schreibt er zur Rolle der LINKEN in diesem Artikel: „ Die dafür auch geeignete Partei Die Linke wird von außen und innen madig gemacht. Immerhin nimmt sie im Osten Deutschlands noch einen beachtlichen Teil des Protestpotenzials auf, aber lange nicht ausreichend, was man ihr angesichts der üblichen Agitation gegen sie nicht zurechnen und übel nehmen kann.“

Ich möchte diesen Freispruch für die LINKE nicht uneingeschränkt stehen lassen und Anmerkungen machen zur enthaltenen Einschränkung `noch´.   Die LINKE, die gesellschaftliche Linke,  auch weite Teile der Bewegung gegen Rechts haben der von Albrecht Müller beschriebenen, vorhersehbaren Entwicklung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, bzw. in ihrem Handeln Schwerpunkte gesetzt, die wenig geeignet waren, dieser Entwicklung wirksam entgegenzutreten. Im folgenden verwende ich das Wort `wir´ aus zwei für mich wichtigen Gründen: 1. Ich ordne mich selbst dem umschriebenen politischen Spektrum zu. 2. Ich habe mich in den letzten Jahren in diesem Spektrum eingebracht und auch meine Einwände vorgetragen, aber vielleicht nicht immer mit der nötigen Hartnäckigkeit, so dass ich ehrlicherweise sagen muss, dass ich mich selbst in einem gewissen Umfang an dem politischem Handeln beteiligt habe, das ich in den folgenden Punkten kritisiere.

  1. Wir haben große Aufmerksamkeit auf rechte Strukturen gerichtet und uns um das Gemenge tendenziell rechter Orientierungen – rechts hier i. S. von `gegen Menschenrechte gerichtet´ – in den Köpfen der meisten Menschen wenig Gedanken gemacht.
  2. Wir haben die alltäglich erfahrbare Neigung der Menschen unterschätzt, auf eine Bedrohung der eigenen Existenz mit Hacken gegen die Schwächeren zu reagieren, statt mit dem in aller Regel als schwieriger empfundenen Kampf gegen die Bedrohenden, die ja immer auch die Mächtigen sind.
  3. Wir haben mancherorts den auf  überzeugenden Argumenten gründenden, wachsenden persönlichen Einfluss von Mitstreiter_innen mit größerem Misstrauen verfolgt als die sich stetig beschleunigende Ausweitung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Produktionsmittelbesitzer.
  4. Wir haben zu oft zugelassen, dass der Begriff des Interesses aus der öffentlichen Debatte verdrängt wird und uns auf ein Politikspiel eingelassen, das entweder auf vermeintliche moralische Gewissheiten Bezug nimmt oder die Formulierung gemeinsamer Ziele durch wenig sinnvolle Streitigkeiten zu unwesentlichen Details erschwert.
  5. Wir haben oft mehr auf `Aktion´ gesetzt als auf Aufklärung und dabei auch noch außer Acht gelassen, dass ein Mausklick beim richtigen Campact-Slogan das Gespräch mit dem Nachbarn nicht ersetzt.
  6. Wir haben nicht bedacht, dass die neuen Medien zwar eine riesige Menge an Äußerungen bereitstellen, aber keineswegs gleichzeitig die Fähigkeit sie zu ordnen, zu bewerten und sich ihrer im eigenen Interesse zu bedienen.
  7. Wir haben auf Strukturen, formaldemokratische Vollzüge und Optimierung der Organisation deutlich mehr Zeit verwendet als auf die Entwicklung inhaltlicher Alternativen.
  8. Wir haben in unsere Überlegungen nicht einbezogen, dass die Neigung aus einem brennenden Haus zu springen, nicht steigt, wenn wir es versäumen vor dem Sprung die brauchbaren Matratzen aus dem Fenster zu werfen.
  9. Wir haben den Gedanken völlig verdrängt, dass der politische Gegner nicht nur V-Leute unter den Nazis hat, sondern auch über `agents provocateurs´ in unseren eigenen Reihen verfügen könnte, die als Spaltpilze gelegentlich große Wirkung entfalten können. Eine erstaunliche Naivität lässt es gelegentlich zu, dass zeitweilige Claqueure, deren undurchsichtige Lebensläufe und Absichten sich hinter linker Phrase verstecken, ansehnlichen Einfluss gewinnen.
  10. Wir haben die Belastungen zu wenig thematisiert, denen Arbeitnehmer_innen ausgesetzt sind, die (noch) eine relativ gut bezahlte Arbeit haben und die für ein gewisses Maß an materieller Sicherheit mit ihrer physischen und pyschischen Gesundheit zahlen müssen. Die Folgen des Zwangs zu grenzenloser Mobilität und zeitlicher Flexibilität, der Entgrenzung von Arbeit und die allgegenwärtige Angst vor dem Sturz in die Arbeitslosigkeit haben wir zwar den Statistiken entnommen, die daraus erwachsenden konkreten Probleme der davon betroffenen Menschen haben uns aber selten gekümmert. Wir haben so zur Spaltung zwischen der bedrohten `Mitte´  und  Transferleistungbeziehern einiges beigetragen.

Der Zulauf für Pegida, Hogesa, AfD und wie sie zur Zeit noch alle heißen zeigt vor allem eines: dass die gesellschaftliche Linke von Hegemonie viel weiter entfernt ist als sie selbst annimmt. Dass es die revolutionärste Tat ist, immer ›das laut zu sagen, was ist‹. ( Lassalle –> Luxemburg) sollte sich nicht nur auf den Gegner beziehen, sondern auch den Blick auf das eigene Lager nicht verstellen. Fehleinschätzungen in letzterem Punkt können die Durchsetzung der eigenen Interessen im selben Umfang behindern, gefährden,  wie Fehleinschätzungen in Bezug auf den Gegner. “ was man ihr angesichts der üblichen Agitation gegen sie nicht zurechnen und übel nehmen kann.“(s.o. Albrecht Müller). Doch, wir müssen es auch uns selbst zurechnen, wenn´s anders werden soll.

Belege zu den Punkten 1 – 10 aus dem linken Alltag der Jahre seit der vorläufigen Machtübernahme der `Modernisierer´ in der Sozialdemokratie etwa ab 1996 liefere ich auf Anfrage gerne nach.

Instrumentalisierung von Antisemitismus-Vorwürfen

Siehe  http://www.nachdenkseiten.de/?p=24241  .

Ich habe den Eindruck, dass linke Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und Politik des Staates Israel zunehmend als ´antisemistisch´ denunziert wird.

Bedauerlicherweise bestärken Argumentationlinien, die Kritik an Handlungsweisen jüdischer Menschen und Kritik an der aktuellen Politik des Staates Israel mit Antisemitismus gleichsetzen, eine rassistische Konnotation von Religion, statt sie aufzulösen. Die Denunziation solcher Kritik als antisemitisch schadet dem Dialog z. B. zwischen Christen und Juden und der Debatte um mögliche, friedliche Lösungswege im Palästina-Konflikt.

Eine rassistische, ethnizistische Konnotation betrifft aktuell auch Muslime: `Pegida´ findet sich zusammen auf der Basis des Weltbildes Türken=Flüchtlinge/Nahost=Muslime=Terroristen. Auch hier werden Differenzierungen wie z. B. areligiöse Menschen mit `Migrationshintergrund´ Türkei,  Muslime mit deutschsprachigem Hintergund, christliche Syrer, sozialer/wirtschaftlicher Hintergrund von Menschen, die terroristische Mitteln verwenden… locker vom Tisch gewischt. Leichtsinnige Gleichsetzungen bzgl. der Vielfalt individueller Merkmale, Motivationen, Orientierungen werden dazu benutzt, alle möglicherweise in Frage kommenden in einen Sack zu stecken, auf den man dann kräftig eindreschen kann. Derzeit kann man nur hoffen, dass diese rassistische Konnotation sich über die Zeit nicht in ähnlicher Weise verfestigt, wie der Antisemitismus.

Ganz gleich wer auf Differenzierungen in wessen Interesse verzichtet: Tendenziell richten sich solche Vereinfachungen gegen die Menschenrechte, die darauf abzielen, alle Menschen als Individuen mit gleichen, unveräußerlichen Rechten anzuerkennen.

Verzicht auf Differenzierung verhindert Aufklärung und trägt zur Eskalation von Konflikten in hohem Maße bei – in allen Konflikten, in denen religiöse Überzeugungen für Machtinteressen instrumentalisiert werden.

Eine solche Denunziation als Antisemit, publiziert vor 6 Jahren von der Autorin Adriana Stern, hat vor kurzem lt. Nachdenkseiten zur Ausladung von Werner Rügemer als Referent in der ver.di Bildungsstätte Sprockhövel geführt. Deshalb habe ich mich in einem offenen Brief an Adriana Stern gewandt (siehe Link unten).

Ich kritisiere darin die Ableitung eines Antisemitismus-Vorwurfs aus nur vermeintlich objektiven Merkmalen des Antisemitismus, die vor Jahren die Bundeszentrale für politische Bildung aufgelistet hat. Ich stelle darin auch eine Sichtweise in Frage, die Kritik am Zionismus und an der von Anbeginn auf bewaffneter Konfrontation basierenden Gründung des Staates Israel als antisemitisch brandmarkt. In einem Gespräch am Küchentisch wurde ich vor kurzem von einem Gast an eine Anekdote zu diesen Zusammenhängen erinnert: Zwei Juden sitzen 1948 in einem Unterstand irgendwo in Palästina. Kugeln schlagen ein, Granatfeuer ist zu sehen und zu hören. Sagt der eine: „Ich finde es ja schön, dass die Engländer uns einen Staat schenken, aber hätten sie nicht die Schweiz nehmen können?“

Brief_Stern_neu

Steuerwettbewerb

Gestern war wieder einmal einer der Tage, an denen ich bedauere, dass ich als Erwachsene beim Ansehen von Fernsehsendungen vergesse mir die Utensilien bereit zu legen für den Zeitvertreib mit dem wir vor der Einführung von Mobiltelefonen langweilige Unterrichtsstunden begleitet haben: dem Zählen von Lieblingswörtern oder Füllseln. 481 gezählte `Hms´ sind immerhin ein Nachweis für Aufmerksamkeit.

Wie gesagt: Als Erwachsener macht man so etwas nicht mehr, aber ich bin sicher gestern hätte es sich gelohnt. Zusätzlich noch einmal Zeit aufzuwenden um die gestrige Talkshow von Maybritt Illner ein zweites Mal anzusehen widerstrebt mir.  Das Wort `Steuerwettbewerb´ wurde gestern in der 60-minütigen Gesprächsrunde gefühlte 80 Mal verwendet.

Betonen möchte ich, dass ich keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen das Wort Wettbewerb und den Sachverhalt habe, den es bezeichnet: Sowohl für Aktive als auch für Zuschauer sind Veranstaltungen, bei denen man sehen kann, wer am weitesten springt, am schnellsten läuft oder am schönsten singt ein anregender Zeitvertreib. Was aber ist ein `Steuerwettbewerb´? Suchen wir den ehrlichsten Steuerzahler oder den gewieftesten Steuerhinterzieher? Den Staat, dem es am besten gelingt, seine Aufgaben über Steuern zu finanzieren? Da niemand weiß, welche Höchstleistung eigentlich im Zentrum steht, ist es nicht verwunderlich, dass man trefflich darüber streiten kann, wer etwas gut, besser, am besten macht, ohne ein einziges Mal offen zu legen, worum es eigentlich geht. Ist es die Pflicht des Publikums sich auf dem Laufenden zu halten, hinsichtlich der Verwendung nebulöser Wortungetüme oder ist es die Pflicht von Journalisten Politiker dazu zu zwingen, die Kriterien dieses `Wettbewerbs´ offentlich zu machen.

Sprachliche Integration

Vorbemerkung

Die gegenwärtige Aufregung um einen Leitantrag für den Parteitag der CSU, enthaltend eine Aufforderung an Migrant_innen auch zuhause deutsch zu sprechen, veranlasst mich zu einer Stellungnahme. Abgesehen davon, dass es sich grundsätzlich  staatlichem Zugriff entzieht, wie und was man zuhause spricht: Menschen mit fremder Muttersprache müssen sich in jedem Land selbst fragen und auch fragen lassen, wie lange, mit welchem Ziel und welchem Zeithorizont in einem neuen Umfeld der Gebrauch der Herkunftssprache gepflegt werden kann oder soll.

Meine Anmerkungen mache ich vor dem Hintergrund langjähriger Berufserfahrung sowohl als Unterrichtende für Deutsch als Muttersprache, Deutsch als Zweitsprache (Zielgruppen: Kinder mit Muttersprache Türkisch, Jugendliche mit Muttersprache Russisch) als auch als Unterrichtende für die Fremdsprache Englisch an deutschen Schulen. Ich beziehe auch Beobachtungen  aus meinem persönlichen Umfeld ein wie langjährige Beziehungen zwischen  Lebenspartner_innen unterschiedlicher sprachlicher Herkunft, Migration von Deutschen ins Ausland, zweisprachige Erziehung u. ä.


Landessprache Deutsch:

Landessprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch. Das  Deutsche kennt wie alle Sprachen auch Dialekte oder Formen,  die von der hierzulande üblichen Verkehrssprache deutlich abweichen wie z. B. das Schwäbisch von Russland- oder Rumäniendeutschen, Jiddisch, Schwyzerdütsch oder das Deutsch von Bewohner_innen des Elsass. Was uns als das Deutsch der Medien, der Dichter und Denker, der Behörden, der Wissenschaft, der Politik … begegnet ist im Regelfall nicht die `Muttersprache´. Der Gebrauch der aktuellen deutschen Verkehrssprache muss erlernt werden. Es ist die Verkehrssprache einer gebildeten Mittel- und Oberschicht.  Kinder aus gehobenen Schichten erlernen sie zuhause, die meisten Kinder jedoch in Kindergarten und Schule aber auch in Kommunikationszusammenhängen, in denen man auf Menschen aus anderen Dialekträumen trifft. Ein Allgäuer versteht eine Sprecherin von Elbplatt nur sehr eingeschränkt,  Wenn sie sich unterhalten wollen, müssen sie die Verkehrssprache benutzen.

Die Verwendung der deutschen Verkehrssprache

Im  Bereich der sprachlichen Rezeption (hören, lesen) und im Bereich der sprachlichen Produktion (sprechen, schreiben) erreichen viele Menschen – auch solche ohne Migrationshintergrund – nur eine Kompetenz, die irgendwo zwischen A2 und B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens liegt (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsamer_Europ%C3%A4ischer_Referenzrahmen ) . Die weit verbreiteten Defizite in der Beherrschung der Verkehrssprache sind nicht allein ein Integrationshemmnis für Menschen mit fremder Muttersprache, sondern  für alle Menschen, denen in ihrem sozialen Umfeld die Verwendung der Verkehrssprache nicht, nur eingeschränkt, z. B. nur mündlich, abverlangt wird. Um Menschen soziale Teilhabe zu ermöglichen, die das angestrebte Niveau B2   nicht erreichen, manchmal auch nicht erreichen können, wird seit einiger Zeit versucht, Inhalte in sog. einfacher Sprache zu vermitteln. Die Existenz von Unternehmen, die als Dienstleistung die Übertragung von Texten in einfache Sprache anbieten, weist darauf hin, dass Menschen, die auf  einem höheren Sprachniveau zuhause sind, nicht unbedingt  fähig sind,  sich auf einem niedrigeren Kompetenzniveau zu verständigen.  Unterschiede in der Sprachkompetenz tragen deshalb dazu bei Schichtzugehörigkeiten zu konstituieren. Wer umfassende demokratische Teilhabe aller Bewohner eines Landes, Inklusion will – bei Angehörigen fremder Sprachkreise wird meistens von Integration gesprochen – muss ein öffentliches, kostenloses Bildungssystem bereitstellen, das alle Einwohner_innen eines Landes befähigt, diese Sprachkompetenz zu erreichen, unabhängig von den Voraussetzungen im Elternhaus.

Der Erwerb der `eigenen´ und/oder einer fremden Sprache

Die didaktische und psychologische  Literatur zum Spracherwerb füllt Regalmeter. Sie hier zu referieren ist nicht meine Absicht. Qualifizierter Unterricht kann diese Prozesse einleiten, unterstützen, fortführen und erweitern. Der Beitrag von Unterricht zu diesem Prozess ist jedoch beschränkt. Nach meiner Erfahrung ( siehe Vorbemerkung) sind die Möglichkeiten zum Erwerb der eigenen und  einer fremden Sprache in sehr hohem Maß von den Kommunikationserfordernissen und einem emotional positiv besetzten Lernumfeld abhängig. Individuelle Voraussetzungen wie akustisches und visuelles Differenzierungsvermögen und eine entwickelte  Sprachmotorik  lasse ich beiseite.  Menschen, die im fränkischen Sprachraum aufgewachsen sind,  haben ein hartes Stück Arbeit vor sich, wenn sie eine an der sprachlichen Norm orientierte Aussprache der Laute P und T erlernen wollen. Sachsen trifft es mit der Unterscheidung von  G und K. Nicht umsonst gibt es massenweise Lernspiele, die im Interesse der Rechtschreibung z. B. die Unterscheidung von ee und ä trainieren. Aber um die Feinheiten, die Herausforderungen der Hochsprache geht es ja gar nicht – bestimmt nicht um den `Dativ, der dem Genitiv sein Feind´ ist.

Es geht beim Thema `sprachliche Integration´ um Kommunikationsfähigkeit im Alltag. Sowohl das  Amtsdeutsch als auch der Sprachgebrauch in Verträgen, die technikorientierte Sprache von Gebrauchs- oder Bauanleitungen oder  die  Fachsprache eines Liebhabers klassischer Musik sind nicht nur für  Menschen fremder Muttersprache Bücher mit sieben Siegeln. Dass es die Erfordernisse des Alltags sind, die wohl den wesentlichsten Faktor erfolgreichen Spracherwerbs bestimmen, die Motivation, dürfte nachvollziehbar sein. Der Spracherwerb wird in höchstem Maß vom sozialen Umfeld und seinen Kommunikationsvoraussetzungen und -erfordernissen bestimmt. Wer in und von einer exkludierten und exkludierenden Umwelt lebt, braucht  eine Landessprache nicht. Der Allgäuer auf seiner Alm braucht `Hochdeutsch´  nicht – genausowenig wie der Inuit, der eine traditionelle Lebensweise pflegt Dänisch oder Englisch. Wer aber in Deutschland z. B. politische Kabarettisten mit einem erstklassigen deutschen Sprachstil  wegen eines  fremd klingenden Familiennamens in der 3. und 4. Generation noch als `Menschen mit Migrationshintergrund´ bezeichnet, separiert und exkludiert, ohne dafür auch nur die Spur einer Rechtfertigung zu haben. Der Vorwurf des Rassismus oder Ethnizismus ist dabei nicht von der Hand zu weisen.

Der folgende Witz ist weit verbreitet und verweist auf die zentrale Funktion der Sprache bei der Bewältigung des Alltags: „Der Karli spricht nicht. Er ist jetzt 5 Jahre alt und spricht nicht. Da passiert´s! Beim sonntäglichen Braten ertönt eine bisher ungehörte Stimme. `Könnte ich bitte das Salz haben?´. – `Karli, Du sprichst. Das ist ja toll. Warum hast du das denn noch nie gemacht?´- `Bis jetzt hat immer alles gepasst.´ sagt der Karli.“

Zwei Bedingungen für erfolgreichen Spracherwerb macht dieser Witz deutlich: Es muss erstens ein Sprachhandeln geben, das als Vorbild dienen kann. Es muss eine Notwendigkeit oder ein Bedürfnis geben, sich mitzuteilen. Wie steht es um diese beiden Grundvoraussetzungen für den Spracherwerb in unserer Gesellschaft? Antworten auf diese Frage können nicht gegeben werden, ohne das Sprachhandeln in Bezug zu setzen zum sozialen Umfeld der Lernenden. Sprachliche Integration ist nicht Voraussetzung gesellschaftlicher Integration, sondern aufs engste mit ihr verzahnt. Sprachsoziologen und -psychologen sprechendavon, dass zwischenmenschliche Zuwendung, soziales Verhalten und gesellschaftliche Einbindung dem Spracherwerb vorausgehen. (s. a.  Kaspar Hauser  oder die fiktive Figur  `Tarzan´ des Autors Edgar Rice Burroughs.)

Die Wende zum Gesellschaftlichen

Nicht allein in Familien mit fremdsprachigen Eltern oder Vorfahren sind sprachliche Vorbilder für den Erwerb der Landes- und Verkehrssprache oft nur in Ansätzen vorhanden. Die Gründe dafür sind vielfältig: wenig Gelegenheit für sprachlichen Austausch z. B. bei gemeinsamen Mahlzeiten, Hobby und Spiel, Zusammenarbeit im Haushalt, Medienberieselung statt Gedankenaustausch; Bildungsferne… .  Der öffentlich finanzierte Unterricht gleicht diese Defizite bezogen auf das angestrebte Kompetenzniveau B2 gegenwärtig nicht  aus. Weder für Einheimische noch für Menschen mit fremdsprachigem Hintergrund. Ich behaupte: Diesen Ausgleich auch nur als Ziel zu setzen, ist mehrheitlich politisch nicht gewollt.

Die modernen Medien leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass zuhause u. U. eine Sprache vorgeführt wird, die nicht `verkehrsfähig´ ist. Rund um die Uhr kann ich mich, wenn mir das Leben und die Erwartungen der Menschen draußen zu lästig sind, zurückziehen zu den sprachlichen Entgleisungen mancher privater Selbstentblößungsformate, die meine ureigenste kleine Welt bestätigen, in der eine Ohrfeige zur rechten Zeit oder ein stimmgewaltiges „Du Arschloch“  zur Abdeckung kommunikativer Bedürfnisse völlig ausreichen. Auf die Frage, wer das alles in wessen Interesse so bereitstellt, darauf haben nur Verschwörungstheoretiker eine Antwort. Leben  müssen wir aber alle mit den Folgen der dort rund um die Uhr gepflegten sprachlichen und sozialen Vorbilder.

Auch sprachlose, wortlose Kommunikation kann in begrenztem Umgang funktionieren. Im Fall von Karli reicht es vielleicht, am Tisch die Hand nach dem Salz auszustrecken und Karli wird geholfen. Die Neigung mancher Eltern ihren Kindern buchstäblich jeden Wunsch von den Augen abzulesen, verringert sowohl die Notwendigkeit als auch das Bedürfnis sich sprachlich einem Gegenüber zuzuwenden. So kann nicht erfahren, nicht gelernt, nicht geübt werden, wie man Sprache benutzt, um sich über  Bedürfnisse, Gefühle, Wahrnehmungen auszutauschen.  Wie soll jemand befähigt werden, Sprache zu gebrauchen, der beim Greifen nach der Herdplatte nicht erfährt, dass das, was da weh tut, `heiß´ heißt  und die Schmerzen durch das Nicht-Anfassen vermieden werden können? Ohne  Sprache lernt das Kind, dass es genügt,  Schmerzenslaute von sich zu geben, um um Zuwendung und Trost zu erhalten, mehr nicht. Wer automatisch wortlos einem Kind, das sich an den Tisch setzt , Kekse hinlegt, erzieht nicht nur zum gewohnheitsmäßigen Fressen, sondern verhindert Sprachentwicklung.

Spracharme Familien oder  Mutter-Kind-Beziehungen sind nicht so selten, wie manche vielleicht glauben. Die daraus erwachsenden Verzögerungen im Spracherwerb lassen sich später in Kindergarten und Schule , wenn überhaupt, nur mit sehr großem Aufwand ausgleichen. Ich erinnere mich noch gut an Gisela, ein Mädchen aus einer bäuerlichen Familie,  das wegen seiner zurückgebliebenen Sprache von den Klassenkamerad_innen arg gehänselt wurde. Gisela hatte die Jahre bis zum Kindergartenbesuch überwiegend allein im Laufstall verbracht – entweder im Sommer am Feldrand oder im Winter in der warmen Küche, während Eltern und die viel älteren Geschwister ihrer Arbeit nachgingen.

Die sprachliche Integration älterer Kinder, Jugendlicher oder Erwachsener mit fremder Muttersprache folgt keinen anderen Regeln. Wenn keine Notwendigkeit besteht, die neue Sprache zu benutzen, wird sie nicht gelernt. Wenn fremdsprachige Menschen die Erfahrung machen, dass  Art und Ausmaß  Bedürfnisse zu befriedigen,  vom Gebrauch der Landessprache nicht oder nur unwesentlich beeinflusst werden – wer sollte, wer wollte sich dann die Mühe machen, diese zu erlernen? Aus meinem persönlichen Umfeld sind mir zwei Fälle bekannt, die dieses Problem veranschaulichen.

Nach 4, bald 5 in Deutschland verbrachten Jahrzehnten spricht und versteht der von Haus aus englischsprachige Partner einer deutschsprachigen Frau nur sehr eingeschränkt Deutsch. Im zurückliegenden Arbeitsleben arbeitete er in einer amerikanischen Behörde, seine Frau spricht zuhause mit ihm Englisch und fungiert  im öffentlichen Bereich als Dolmetscherin. Er ist Mitglied eines Sportvereins. Häufig nutzen seine deutschen Sportkameraden Vereinstreffen lieber dazu, ihre eigenen Englischkenntnisse zur Schau zu stellen oder zu erweitern, als N.N. zu veranlassen, sich auf  Deutsch zu äußern. `Integriert´ ist N.N. trotzdem, weil es neben der Sprachdefizite keine größeren kulturellen Unterschiede gibt, die Ablehnung provozieren könnten wie Essgewohnheiten oder Religion.

Eine Ehe zwischen einem deutschsprachigen Mann und einer russischsprachigen Frau scheiterte nach wenigen Jahren nach meiner Beobachtung und Einschätzung nicht zuletzt daran, dass die Frau den  Erwartungen an die Kommunikationsfähigkeit auf Deutsch auch nach mehreren Jahren des Zusammenlebens nicht gerecht werden konnte. Sprachliche Brücke zwischen den Partnern war das Englische, das zuhause von beiden Partnern als gemeinsame Fremdsprache verwendet wurde. Die Sprachentwicklung des gemeinsamen Kindes verlief sehr verzögert, noch weit langsamer als es bei zweisprachigem Aufwachsen sonst der Fall ist, da im Umfeld praktisch keine der beiden Herkunftssprachen gesprochen wurde, sondern eine Fremdsprache. In eine ausdifferenzierte Muttersprache konnte das Kind nicht hineinwachsen. Daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten des Kindes führten zu einer Einweisung in die Förderschule, trotz normaler Intelligenz.. Die vorher mangelhafte bis ungenügende sprachliche Integration von Mutter und Kind verbesserte sich sehr schnell nach der Trennung, die auch mit einem Umzug  in eine durchgängig deutschsprachige Umgebung verbunden war.  Schnell normalisierten sich am neuen Wohnort Sprach- und Sozialverhalten des Kindes.

Dass die erlebte Erfordernis, sich der Landessprache zu bedienen, dazu motiviert  sie zu gebrauchen, zu üben und zu erweitern, konnte ich auch im Umfeld von Unterricht beobachten.

Im Rahmen einer beruflichen Fortbildung für Englisch als Fremdsprache besuchte ich einen dreiwöchigen Kurs an einer Sprachschule in England. Gleichzeitig wurden dort Kinder, Jugendliche, Lehrer_innen aus einer Vielzahl von Ländern in Kursen unterrichtet, die entsprechend dem  Stand der Sprachkenntnisse zu Beginn in 3 Altersgruppen zusammengestellt wurden. Die Situation in den Pausen ließ ein Sich-Zusammenfinden von  Anwesenden entsprechend der Herkunftsnationalität, der Herkunftssprache fast nicht zu. Das Gedränge war zu groß. Merkmale wie Haar- oder Hautfarbe halfen nur sehr  beschränkt weiter. Das blonde Mädchen konnte aus jedem beliebigen Mittel-, Ost- oder nordeuropäischen Land kommen, der Farbige war möglicherweise ein englischsprachiger Südafrikaner aus den Reihen der Unterrichtenden, die Dunkelhaarige hätte man auf den ersten Blick für eine Französin, eine Italienerin, Spanierin… halten können. Kurz gesagt: Drei Wochen lang sprachen wir im Unterricht Englisch, in der Pause, zuhause in der Gastfamilie, in der Freizeit. Die Lernfortschritte der Kursteilnehmer_innen auf allen Sprachniveaus waren enorm.

Über einige Jahre unterrichtete ich jugendliche Spätaussiedler mit der Muttersprache Russisch. Ziel der Kurse war es, nach einem Jahr, maximal nach zwei Jahren den damaligen bayerischen qualifizierten Hauptschulabschluss abzulegen mit einer Erleichterung: Statt in  Deutsch wurde  eine Prüfung in Russisch abgelegt und eine Prüfung in Deutsch als Fremdsprache, etwa auf dem Niveau von B1 / B2 ( s. o.) .  Die Lernumgebung war eine völlig andere als in der englischen Sprachschule: Etwas fortgeschrittenere Kursteilnehmer_innen konnten kaum daran gehindert werden,  umgehend  jede einfache Bitte wie z. B. `Holen Sie sich bitte einen dicken Filzstift. Die Filzstifte liegen hier in dieser roten Kiste.´ ins Russische zu übersetzen. In den Pausen wurde ausschließlich Russisch gesprochen. Die Schüler_innen lebten in speziell für Aussiedler gebauten Siedlungen und verbrachten ihre Freizeit in aller Regel zwar auch in der unter deutschsprachigen Jugendlichen gleichermaßen beliebten Disko, aber fast immer in kleinen russisch sprechenden Grüppchen.Vor allem eher etwas langsame Schüler_innen konnten ihre Sprachkompetenz  in max. zwei Jahren Vollzeitschule – dann lief  spätestens die Förderung aus – mit 36 Unterrichtsstunden pro Woche kaum verbessern. Von den Kursen profitierten hauptsächlich die Dolmetscher_innen. So einfach kann man öffentliche Gelder in den Sand setzen, wenn nicht Fachleute für Sprache über Organisationsformen, Inhalte und Methoden entscheiden, sondern Politiker_innen und Verwaltungsleute die Rahmenbedingungen bestimmen.

In Belgien hatte ich die Möglichkeit eine internationale Ganztagsschule mit der Unterrichtssprache Englisch kennenzulernen. Bevor die Schüler Fachkursen zugewiesen wurden, durchliefen sie ohne Beachtung des Alters einen lebensweltlich bestimmten Sprachkurs. Soziale Beziehungen zu Altersgenoss_innen wurden in dieser Spracherwerbsphase hauptsächlich durch musische Fächer und Sport gestiftet, die gemeinsamen Mahlzeiten oder freies Spiel. Zum Fachunterricht zugelassen wurden nur Schüler_innen, die das dafür  notwendige Sprachniveau, etwa B2, erreicht hatten. Das Ziel, der amerikanische High-School-Abschluss mit der Berechtigung sich an einem College eigener Wahl  zu bewerben, wurde von allen Schüler_innen zwischen dem 16.-20  Lebensjahr erreicht, abhängig davon, mit welchen Englisch-Vorkenntnissen und in welchem Alter sie ihren Bildungsweg an dieser Schule begonnen hatten.

Mit diesen  Beispielen bin ich bei der Wende zum Politischen angelangt. Es ist Sache der Politik, Bedingungen zu schaffen, die für den Erwerb der Landessprache günstig sind. Im Klartext heißt das: Der Spracherwerb ist der Integration nicht vorgeschaltet. Integrierende, integrierte soziale Zusammenhänge erleichtern und beschleunigen den Erwerb der Zweitsprache.

Welche Maßnahmen müssten, könnten von der Politik eingeleitet werden, ohne die Entscheidungsfreiheit der Neubürger_innen nichtdeutscher Muttersprache grundgesetzwidrig einzuschränken?

1. Ballungen einzelner Nationalitäten in bestimmten Stadtvierteln sind zu vermeiden. Die Wohnungspolitik muss einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen fremder Muttersprache überall wohnen können. Nötigenfalls müssen Mietsubventionen dazu beitragen, dass nicht schon der Mietpreis zu einer Ghettoisierung führt. Grundfalsch ist die Unterbringung fremdsprachiger Menschen nach Nationalitäten oder Sprachräumen. Grundfalsch ist die Unterbringung in Lagern, die z. B. eher die Verwendung der Weltsprache Englisch nahelegen, als die Verständigung über die Landessprache Deutsch. Grundfalsch ist die `privilegierte´ Unterbringung in Sozialwohnungen für bestimmte Sprachgruppen.

2. Sprachkurse für Jugendliche und Erwachsene  müssen  eine internationale Teilnehmerschaft haben. Das Ausweichen in die `Weltsprache´ Englisch statt des Gebrauchs der deutschen Landessprache sollte so gut es geht unmöglich gemacht werden.

3. Kindern und Jugendlichen mit fremdsprachigem Hintergrund muss ermöglicht werden,  sich  die sprachlichen Grundlagen anzueignen. – ohne die Zwänge jahrgangsbezogener Fachlehrpläne und normierter Abschlüsse. Das kann in Lerngruppen geschehen, die sich am Lebensalter orientieren, aber nicht an die allgemeinen Lehrpläne der entsprechenden Jahrgangsstufen gebunden sind. Sich später fachliche Kenntnisse mit Hilfe der Zweitsprache anzueignen, ist auf der Grundlage einer  Sprachkompetenz im Rahmen von B2  kein Problem.

Haben Sie´s gemerkt?

An keiner Stelle spielt es beim Erwerb einer Zweitsprache eine Rolle, ob man Reis, Kartoffeln oder Borschtsch isst, dabei Stäbchen, Finger oder Messer und Gabel benutzt, sich zum Beten auf einen Teppich kniet, die Hände faltet oder eine Ratsche dreht. Welche Sprache man zuhause spricht schon eher: Die deutsche Verkehrssprache zu lernen ist mit  Elbplatt  als Hintergrund vielleicht ein bisschen einfacher als mit einer beliebigen indogermanischen Sprache, mit einer solchen wiederum vielleicht leichter als z. B.  mit Arabisch oder Chinesisch als Muttersprache. Ich habe es auch schon erlebt, dass ein im Deutschen handfest zurückgebliebener Schüler, den man aus diesem Grund beinahe vom Englischunterricht befreit hätte, problemlos diese Sprache erlernt hat und im Englischen eine bessere Kompetenz erreicht hat, als in seiner `Muttersprache´. Die Unterrichtenden müssen halt wissen wie´s geht.

Die gegenwärtige Gesellschaft und ihre Bildungslandschaft  bringen, nicht nur in Deutschland, selbst  die Unterschiede hervor, die man als mangelnde Ìntegrationsbereitschaft einzelner Bevölkerungsgruppen öffentlich denunziert, mit äußerst fragwürdigen empirischen Belegen. Kein Wunder, dass man dann bar jeden sprachwissenschaftlichen Wissens auf die absurde Idee kommt, häusliches Radebrechen in der Landessprache könnte die Lernenden voranbringen und an sie appelliert, doch zuhause das zu sprechen, was sie möglicherweise für Deutsch halten.